In memoriam

Dr.med. Mechthilde Kütemeyer
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie
Realistin, die das Unmögliche forderte
Mechthilde Kütemeyer setzte sich für eine neue, integrierte psychosomatische Wissenschaft und mehr weibliches Denken in der Medizin ein.
Mechthilde Kütemeyer ist am 7. Dezember 1938 in Heidelberg geboren. Nach ihrem Medizinstudium in Heidelberg, promovierte Mechthilde Kütemeyer mit einer Arbeit zur Geschichte der Heidelberger Schule für Anthropologische Medizin. Der nächste Schritt führte sie nach Berlin, wo sie im Klinikum Westend der Freien Universität Berlin tätig war. Bei dem Weizsäcker-Schüler Dieter Janz entwickelte sie sich an der Neurologischen Universitätsklinik von 1975 an zu einer Protagonistin einer psychosomatischen Neurologie, was sich in einer Fülle von Übersichtsarbeiten und wissenschaftlichen Publikationen zu Angst- und Schmerzsyndromen, Rückenschmerzen und Anfällen niederschlug.
Geprägt war ihre Arbeit von der Tradition der Anthropologischen Medizin, mit deren Entwicklung als Heidelberger Schule sie sich bereits in ihrer Promotion beschäftigt hatte. Die Anthropologische Medizin geht von einem engen leib-seelischen Zusammenhang aus. Die Art des Umgangs mit organisch Kranken ist, wie bei Psychose-Patienten, eine andere als in der Psychoanalyse, wie die Weltsicht eine andere ist. Sozialpathologische Strukturen müssen als schwere Störungen, ja als gesellschaftliche Erkrankung gesehen werden – nicht nur als pathogene Faktoren.
Sie beteiligte sich an der Herausgabe der Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers und befasste sich in letzter Zeit mit der Edition der frühen Vorlesungsprotokolle ihres Vaters, des Internisten Wilhelm Kütemeyer, unter besonderer Berücksichtigung der anthropologischen Grundlagen dieser Schriften.
Mechthilde Kütemeyer entwickelte ein sehr erfolgreiches psychosomatisches Konzept zur Behandlung von Rückenschmerzen (das sog. Berliner Modell), von dem sie schließlich manchen kritischen Neurochirurgen und Orthopäden überzeugen konnte. Als Chefärztin der Psychosomatischen Abteilung des St. Agatha-Krankenhauses in Köln konnte sie ihre Arbeit in einem anderen Kontext fortsetzen. Dabei förderte sie auch die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen – zumal mit der Inneren Medizin und Chirurgie.
Zu ihren wichtigsten Forschungsarbeiten zählen:
- Die Differenzierung psychogener Schmerzen
- Die psychoanalytische Schmerzauffassung
- Angstbedingte, dissoziative und anankastische Ausgestaltung von Schmerzsyndromen und Anfallskrankheiten
- Psychosomatik des Lumbago-Ischias-Syndroms („Berliner Modell“)
- Kommunikative Anfallsunterbrechung bei Status pseudoepileticus
- Phänomenologie, Psychodynamik und natural history anhand von Langzeitkatamnesen
- Katamnesen von Patienten mit Myasthenia gravis nach stationärer und ambulanter Psychotherapie
- Veränderung extrapyramidaler Hyperkinesen während stationärer Psychotherapie
Als Einstieg in die Psychosomatik bezeichnete sie sowohl die vegetative Anamnese als auch die Vorgeschichte von Narben und Wundheilungsstörungen. Das von ihr beschriebene „Alphabet der Affekte“ ist ein Instrument zur Spontandiagnose psychisch bedingter Körperstörungen. Im Jahr 1997 gewann sie große Anerkennung für die Publikation und Interpretation einer mehr als 100 Jahre lang im deutschen Sprachraum verschollenen, von ihr wiederentdeckten und aus dem Französischen übersetzten Arbeit, einer Studie Sigmund Freuds zur Hysterie (1893): Einige Betrachtungen zu einer vergleichenden Studie über organische und hysterische motorische Lähmungen.
Wir und viele andere haben von ihr im Umgang mit unseren Patienten Entscheidendes gelernt:
„Das Wesentliche ist doch, dass wir zuhören, den Menschen und seinen Körper anschauen und daran entsprechend ablesen können, woran er wirklich erkrankt ist, wo beispielsweise die Gründe für seine Schmerzen oder die Angstzustände liegen.”
Der preisgekrönte WDR-Film „Körperschmerz – Seelenschmerz“ gab damals exemplarisch – im deutlich sichtbaren Kontrast zum überkommenen eindimensionalen Personenmodell der Schmerzpsychotherapie – ihre mehrdimensionale, an der Biographie der Kranken orientierte, empathische Gesprächstechnik wieder, die sie auch im Hörsaal auf unvergleichlich klare und einfühlbare Art vermitteln konnte.
Ihr lebendiges Engagement, ihre originäre Herangehensweise und nicht zuletzt ihr Eigensinn haben viele von uns sehr beeindruckt und geprägt. Ihre Studenten, ihre Patienten und ihre Kollegen verdanken ihr viel – vor allem: das mutige Vertrauen in die Wahrnehmung der eigenen Erfahrung. Sie schrieb regelmäßig kurzgefasste themenzentrierte Rundbriefe und eine Reihe dieser Mitteilungen als Initiatorin der Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatik in der Neurologie (AGPM).
Mechthilde Kütemeyer engagierte sich für eine Aufwertung weiblichen Denkens und Handelns in einer neuen integrierten psychosomatischen Medizin. Herausragend ist ihre erstmalige Übersetzung früher neurologischer Studien Sigmund Freuds. Ihr Engagement für eine sprechende Medizin und ihr innovatives Verständnis für die Zusammenhänge von Biografie und Krankheit bleiben beispielhaft.
Mechthilde Kütemeyer ist am 08. Oktober 2016 in Neckarhausen bei Heidelberg gestorben.
(Hans Pfefferer-Wolf, Hans Wenzl, Helmut Kretz, Karl F. Masuhr)