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Rundbrief 8 | Spätdyskinesien-Epidemie

by admin on March 28th, 2010

Als Bahnfahrerin entdecke ich auf fast jeder Fahrt durch die Stadt ein oder zwei Fahrgäste, Frauen und Männer, mit extrapyramidalen Hyperkinesen: perioralen Zuckungen, Wälzbewegungen der Zunge, Kauen, Schlucken, zuweilen auch diskreten Hyperkinesen der Halsmuskulatur mit leichtem Torticollis, blepharospastische Phänomene mit Zukneifen und Aufreißen der Lider, Blickkrämpfe, Zucken der Finger. Die meisten Fahrgäste mit diesen Bewegungsstörungen sind mittleren Alters, aber auch Alte und Jugendliche sind betroffen. Sobald sie bemerken, dass ich sie beobachte, versuchen sie, mit verlegenen Willkürbewegungen – Kramen in der Tasche, Naseputzen, Aufknöpfen der Jacke – ihre Hyperkinesen zu überspielen und zu unterdrücken; einige berühren in typischer Weise mit der Hand ihr Kinn und unterbrechen so die Dreh- und Neigebewegung des Kopfes. Sobald die willkürliche Tätigkeit beendet ist, sind die Hyperkinesen wieder sichtbar.

Hochgerechnet auf die Fahrgäste, die ich nicht im Blickfeld habe, dürften sich auf jeder Fahrt 10-20 Betroffene in der Bahn befinden, über den Tag und die Stadt verteilt weit über 1000 Personen. Hinzu kommen die latent Betroffenen. Denn auf der Straße, im Geschäft und Café sind sie mehr in Bewegung oder im Gespräch, und ihre Hyperkinesen treten nicht oder kaum in Erscheinung.

Meine Diagnose: Es kann sich nur um Spätdyskinesien handeln, die nach längerer Einnahme von milde dosierten Neuroleptika auftreten. Natürlich kann ich bei den Fahrgästen keine Krankheits- und Medikamentenanamnese vornehmen; so bleibt ein hypothetischer Rest.

Meine Beurteilung: Neuroleptika sind zur Behandlung von Psychosen entwickelt worden, werden hier in hoher Dosis eingesetzt, die extrapyramidalen Komplikationen zeigen sich rasch, akut und drastisch – können wirksam mit i.v.-Injektion von Biperiden (Akineton (R) ) unterbrochen werden -, oder sie manifestieren sich spät und allmählich, dann aber mit hypokinetischen parkinson-ähnlichen Phänomenen. In milderer Dosis werden Psychopharmaka, auch Neuroleptika, entgegen der ursprünglichen Indikation, häufig bei Neurosen (z. B. Angststörung oder konfliktbedingter Schlafstörung, psychogenen Schmerzen) eingesetzt, nicht selten über Monate und Jahre. Für die Neurosen ist jedoch, lange vor der ersten Anwendung der Psychopharmaka, die Psychoanalyse entdeckt worden, das Sprechen über biographische Traumen, Krisen und Konflikte.

Zu den Neurosen gehören auch die dissoziativen Störungen, die vielgestaltigen anfallsartigen Erinnerungssyndrome, die leicht als psychotische Phänomene, in ihren körperlichen Formen (Tremor und Konvulsion, Schwindel, dissoziative Schmerzen u. a.) oft als neurologische, sogar epileptische Symptome missdeutet werden. Die Häufigkeit unbedacht neuroleptischer (oder antiepileptischer und analgetischer) Medikation liegt auf der Hand, und das Sprechen über zugrunde liegende Traumen und Konflikte unterbleibt.

Der Verzicht auf die bewährten kommunikativen Methoden der angewandten Psychoanalyse, ihr Ersatz durch die Behandlung der Neurosen mit Psychopharmaka – von der besonders die Pharmaindustrie profitiert – hat offenbar inzwischen zu einer Dyskinesien-Epidemie geführt. Die Spätdyskinesien werden noch weiter zunehmen und uns Ärzten lange vor Augen bleiben, da sie bis dato kaum behandelbar sind und auch nach Absetzen der Neuroleptika nicht verschwinden – als Zeichen unterlassener Hilfeleistung und Fehlbehandlung.