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Rundbrief 6 | Retrograde Amnesie – cerebral versus psychogen

by admin on March 28th, 2010

Die retrograde Amnesie nach Commotio cerebri muß von der seelisch erzeugten „dissoziativen“ Amnesie nach Unfällen abgegrenzt werden. Diese pathogenetisch so verschiedenen klinischen Phänomene sind beide als sinnvolle Antwort auf die Erschütterung im Sinne des Selbstschutzes zu verstehen.
Eine anhaltende seelische Labilität, eine sog. posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt sich überwiegend nach Unfällen ohne cerebrale Schädigung, ohne Bewußtlosigkeit und ohne Amnesie.
Beide Formen der Amnesie sind klinisch trennscharf zu unterscheiden: Die cerebral bedingte retrograde Amnesie ist an eine, wenn auch kurze, Bewußtlosigkeit gebunden, ihre zeitliche Ausdehnung bleibt im Verlauf gleich oder nimmt ab. Die dissoziative Amnesie dagegen, ohne Bewußtlosigkeit entstanden, kann sich in den Tagen nach dem Unfall drastisch ausdehnen:

Einem 30-jährigen Büroangestellten, der seinem Freund abends nach der Arbeit auf dem Bauernhof aushilft, werden von einem Seil, das sich in einer Maschine verfängt, bei vollem Bewußtsein die Finger III-V der rechten Hand abgerissen. Rasch und umsichtig kann er sich Hilfe holen und 30 Minuten nach dem Unfall die Handchirurgische Abteilung unseres Hauses erreichen. Bei der neurologisch-psychosomatischen Anamnese des vom Schock (dissoziativ) wie neben sich stehenden Patienten kommt eine retrograde Amnesie zu Tage („ich sehe noch das Seil am Boden liegen, dann weiß ich nichts mehr“), die sich tags darauf – er wirkt jetzt klarer und gefaßt – erheblich ausgedehnt hat („ich weiß nicht mehr, wie ich in die Scheune gekommen bin“).

Hier hat sich die traumakompensatorische Abwehr, die Abwehr im Dienst der seelischen Stabilisierung, in Form der paradox zunehmenden dissoziativen Amnesie – bei gleichzeitig abnehmender dissoziativer Gesamtverfassung – durchgesetzt.