Rundbrief 4 | Phantomschmerz – Verlustschmerz – Trauerarbeit
Phantomschmerz kann neurologisch und psychosomatisch verstanden werden. Der Deafferen-zierungsschmerz nach Amputation kommt neurophysiologisch so zustande, daß neben den schmerzleitenden dünnen A-Delta- und C-Fasern die schmerzhemmmenden dicken A-Beta-Fasern durchtrennt wurden, so dass Berührungs-, Bewegungs- und Schmerzreize ungefiltert in die zum amputierten Glied gehörenden (spinalen und cerebralen) Schmerzverarbeitungsareale gelangen. Der Phantomschmerz beginnt mit Latenz von Tagen / Wochen nach der Amputation, als Dauerschmerz oder anfallsartig / episodisch. Der brennende Charakter ist für den neuropathischen Reizzustand, aber auch für den psychogenen „depressiven“ Schmerz nach Verlusten charakteristisch.
Die jeweilige Symptomdynamik scheint durch die Art der seelischen Verarbeitung des Glied-maßenverlustes mitbestimmt: Die Unfähigkeit eines Patienten, sich von dem amputierten Körperteil innerlich zu verabschieden, ist offenbar mit dem intensivsten, resistentesten Dauerschmerz verbunden (Hallen 1956), spürbare Trauerarbeit über den Verlust dagegen eher mit der anfallsartigen Form: Ein 65-jähriger Unternehmer, passionierter Tänzer und Skifahrer, vergießt auf der plastisch-chirurgischen Station während und nach fraktionierter Beinamputation heftige Tränen über die verlorenen Möglichkeiten. Er erlebt in dieser Zeit Schmerzkrisen von 1-2 Stunden Dauer im abwesenden Fuß, vor allem nachts, die im Zuge konsiliarischer Gespräche rascher (nach ca. 15 Minuten) enden – der Periduralkatheter ist inzwischen entfernt, die Schmerzmedikation drastisch reduziert. Schließlich sind die Schmerzanfälle unter nächtlichen Selbstgesprächen („Toni, du hast viel im Leben gehabt, du wirst neue Freuden und Bestätigungen finden“) nach wenigen Sekunden regelmäßig unterbrochen und 4 Wochen nach der letzten OP ganz verschwunden.
Die – ärztlich-psychotherapeutisch begleitete – Fähigkeit zur Trauer, zum Gefühlsaustausch, vor allem zur Selbsttröstung scheint wesentlich zur Milderung und schließlich Überwindung des andernfalls häufig so quälend resistenten Phantomschmerzes beizutragen.
Hallen O (1956) Zur biographischen Genese des Phantomschmerzes. Z Psychother med Psychol 6,1-7
Frau Dr.med.M.Kütemeyer