Rundbrief 12 I Unwort Verschleiß
Das Wort “Verschleiß”: dieses Wort sollte endlich in seiner tödlichen Grausamkeit durchleuchtet, verstanden – und, als Unwort, abgeschafft werden.
“Verschleiß” wird landauf landab gedankenlos in der Medizin gebraucht, von Ärzten aller Fachrichtungen, am meisten von Orthopäden, aber auch von vielen Patienten, das heißt das Wort grassiert – seit vielen Jahren, Jahrzehnten – in der gesamten Bevölkerung.
Ärzte, die Orthopäden – und die Patienten – meinen damit die “abgenutzte” Wirbelsäule, die durch Anstrengung “verbrauchten” Gelenke. Der Begriff Verschleiß soll erklären, warum Rückenschmerzen
und andere Schmerzen – im Nacken, in den Knien, Schultern, Ellenbogen und anderen Gelenken –
nicht verschwinden, warum Schmerzmittel nicht helfen, Massagen, Krankengymnastik usw. keine Linderung bringen oder nur vorübergehend, warum auch Operationen nicht helfen, diese oft sogar die Schmerzen verschlimmern.
Der Gedanke, dass solche Schmerzen seelisch und sozial bedingt sind – eine Antwort auf unverarbeitete schmerzhafte Erlebnisse und berufliche oder familiäre Unerträglichkeiten -, taucht nicht auf, er wird durch die Erklärung “Verschleiß” – und das Weltbild, die Körperauffassung, die dahinter steckt – verschüttet.
Tatsächlich haben manche Fußballer “verschlissene” Kniegelenke, und Spediteure, die anhaltend schwere Lasten tragen, bekommen schmerzhafte Bandscheibenvorfälle. Aber Rücken- und Gelenkschmerzen haben deutlich zugenommen, seit die Maschinen den Arbeitern körperliche Belastungen abnehmen. Die meisten dieser Schmerzen sind anderer Art und anderer Genese; sie haben mit seelischem Druck und Angstspannung zu tun, auch mit äußerem und innerem Bewegungsmangel.
Das Wort Verschleiß kommt aus einer Maschinenvorstellung des Körpers, der zu funktionieren hat und, wenn er krank wird, repariert werden muss und kann. Eine Maschine, ein Stoff verschleißt bei längerem Gebrauch, der lebendige Körper dagegen bleibt durch Gebrauch
gerade gesund und lebendig – auch die Gehirnzellen. Das Wort Verschleiß reduziert den Körper auf seine motorischen Funktionen, das Wesentliche, die sensiblen Fähigkeiten des Körpers – des Leibes -, der mit allen seinen Organen auf Stimmungen, Erlebnisse, auf Anerkennung und Entwertung antwortet – meist sensibler als das bewusste Ich -, gerät dabei aus dem Blick. Überall, wo diese Reduzierung des Körpers auf das rein Stoffliche und die Missachtung seiner Fühlfunktion stattfindet, sind mörderische Folgen zu beobachten: in der Medizin, in den Institutionen, den Familien, in der ganzen Gesellschaft.
Die öffentliche Deklarierung des Wortes Verschleiß als Unwort könnte eine Besinnung darüber in Gang bringen, was den lebendigen Körper, den menschlichen Leib, wirklich ausmacht. Dies hätte nicht zuletzt eine eminent politische Bedeutung.