Rundbrief 10 | Weisheitszähne sind Weisheits-Zähne
„raus damit“, sagen die Zahnärzte, wenn die hinteren Backenzähne Beschwerden machen, am besten man entferne sie schon prophylaktisch, sie werden ohnehin nicht gebraucht (FR 23.4.13).
Nun lässt der Körper überflüssige Organe selbst schrumpfen oder ganz verschwinden: die Thymusdrüse atrophiert, sobald der übrige Körper die Immunität, die Abwehr von Schädlingen, „gelernt“ hat; die Blutgefäße in den Bandscheiben verschwinden im 2. Lebensjahr, wenn durch das erlernte Aufrechtgehen die gallertigen Kissen zwischen den Wirbeln für den Stoffwechsel ausreichend massiert werden. Die Anlage zur Gebärmutter entwickelt sich beim Mann nur mandarinenklein zur Prostata. Alles, was nicht atrophiert, hat noch eine Funktion, einen Sinn. Die Gebärmutter atrophiert nicht oder nur gering nach der Menopause, da vegetative Verbindungen vom Uterus zu Organen des übrigen Körpers für das Wohlgefühl der Frau lebenslang wichtig sind. Die Reduzierung des Uterus zum bloßen Gebärsack hat unbedachtes Herausoperieren des Organs (Hysterektomie) zur Folge. Auch die Weisheitszähne atrophieren nicht. Was für eine Funktion erfüllen sie?
Die Weisheitszähne melden sich mit Schmerz und Druckgefühl zuerst in der Spätpubertät, zu einer Zeit, in der sich Vorlieben herausbilden und die Jugendlichen mit Phantasien und Tagträumen beschäftigt sind, wie sie einmal sein und was sie werden in der sozusagen das Selbstbild und die eigene Lebensphilosophie tastend im Entstehen sind. Diese Innenwelt kollidiert mit den Anforderungen der Außenwelt; Lehrer und Eltern haben anderes im Sinn und setzen den Heranwachsenden mit realistischen Zielen, was zu lernen und einzuüben sei, unter Druck. Allzu oft gibt die Innenwelt dieser Übermacht nach: die aufblühenden Phantasien werden als lästige Störenfriede, als Fremdlinge abgetan – und vergessen. Stattdessen rebellieren die Weisheitszähne; sie stellen sich quer und erzeugen schmerzhaften Gegendruck: Wächter der Eigenheit, der inneren „Weisheit“.
Wenn der Weisheitszahn, mit oder ohne Beschwerden, einfach beseitigt wird, werden die Spuren der Tagträume noch mehr verwischt. Vielleich für immer. Ganzheitliche Zahnmediziner wissen: der Weisheitszahn ist mit der Immunität verzahnt, mit dem System, das für die Unterscheidung von eigen und fremd, für das Wehren gegen Schädlinge zuständig ist. Und Kieferchirurgen, die diese Einsicht als unsinnig abtun, werden eines anderen belehrt. Denn die häufigen Entzündungen nach Entfernen des Weisheitszahns und die Wundheilungsstörungen mit bleibenden Löchern und Taschen – was beim Ziehen anderer Zähne nicht passiert! – zeigen, dass der unbestechlich wehrhafte Körper den Eingriff, den Angriff nicht vergisst und anhaltend, wiederum rebellierend, sich selbst und andere, vor allem den invasiven Arzt, daran erinnert.
Entscheidend ist eine achtsame, wahrnehmend-zuhörende Haltung des Arztes. Dieser muss in der Regel nicht lange warten, bis er von der Phantasiewelt des Patienten etwas erfährt, die er wertschätzend aufgreifen und damit die Immunität gegen weitere Angriffe nachhaltig stärken kann.