Rundbrief 3 | Diabetes mellitus und Angst
Die ersten Symptome eines Diabetes mellitus zeigen sich oft in einer Situation exacerbierender Angst. Auch andere klinische Phänomene weisen auf eine Verbindung von Diabetes und Angst hin: Patienten mit schwer einstellbaren, schwankenden Blutzuckerwerten berichten von Unruhe, Zittern und Schweißausbruch bei Unterzuckerung (entkoppelter Ruhezustand, vergleichbar somatisierten Angstsymptomen), von angenehmer Beruhigung bei hohem Blutzuckerspiegel, den sie deshalb durch Essen von Süßem bewußt herbeiführen, „dann kann ich so schön einschlafen“. Das Schlafmittel Süßigkeit ist jedem Kind als „Betthupferle“ bekannt. Nächtliches Essen von Süßigkeiten als Selbstmedikation (neben Alkoholkonsum) und entsprechende Adipositas kennen wir auch bei Angstpatienten ohne Diabetes mellitus.
Manche Diabetiker meinen, daß sie gerade die Komplikationen bekommen (Retinopathie, Angio-pathie mit Gangrän in den Beinen), die sie zuvor am meisten befürchtet haben.
Patient/inn/en mit quälenden Schmerzen in beiden Unterschenkeln und Füßen, wegen Verdacht auf diabetische Polyneuropathie neurologisch untersucht, schildern einen unruhig wühlenden Schmerz, der sich anfallsartig steigere, besonders nachts. Sensibilitäts- und Reflexstörungen sind oft auffällig gering, selbst das Vibrationsempfinden ist wenig gestört. Eine bahnende Frage („könnte Ihr unruhiger Schmerz ‚Angst’ sein?“) bringt Bewegung in die bis dahin lethargischen Patienten: „Jetzt weiß ich, warum ich jeden Morgen aufschrecke und kerzengerade im Bett sitze!“ Nicht selten kommt anschließend eine Geschichte der Angst heraus, die sich lange vor Beginn des Diabetes als nächtliche Luftnot mit Herzrasen, dann als Bluthochdruck-Krisen, später als Schwindelepisoden, Hitzewallungen, Taubheitsgefühle der Hände manifestiert hat, jetzt in Form der unruhig schmerzhaften Beine (ähnlich oder identisch dem Restless legs-Syndrom, früher „anxietas tibia-rum“ genannt = Angst der Schienbeine). Nicht verwunderlich, daß dieses häufige Angstsymptom der Beine durch α-Liponsäure oder Carbamazepin, selbst durch Thioctacid-Infusionen nicht beeinflußt wird. Auch Diätberatung allein kann den Drang nach dem Tranquilizer Süßigkeit schwer bändigen. Das Sprechen über Angst und ihre biographischen Hintergründe ist in allen genannten Situationen therapeutisch wirksamer.