Sensible Medizin
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Die folgenden Texte gehören in den größeren Kontext einer »sensiblen Medizin«, an deren Entwicklung Ärzte verschiedener Fachrichtungen und andere Gesundheitsarbeiter beteiligt sind. Sensible Medizin, auch „Erinnerungsmedizin“ genannt, bedeutet ein der Wahrnehmung verpflichtetes ärztliches Vorgehen, das die Sprache und das Zuhören als zentrales Diagnostikum und Therapeutikum einsetzt. Dies erfordert eine rezeptive ärztliche Haltung, eine Haltung der Langsamkeit, des Abwartens - als Gegengewicht zur apparativen, aktiven und invasiven Medizin, die auf Entscheiden und Handeln setzt. Sensible Medizin konzentriert sich auf die körperlichen Empfindungen der Patienten, ihre Beschwerden (Schwindel, Schmerz, Übelkeit, Müdigkeit, Unruhe), auf ihre Selbstwahrnehmung, ihre Gefühle und Affekte, ihre Erinnerungen, ihre Träume, auf die subjektive Seite der Krankheit. Am wichtigsten ist, was die Patienten mitzuteilen, zu erzählen haben. Schon in der Schilderung ihrer Beschwerden sind biographische Erzählungen, offener oder verschlüsselt, enthalten.
Die Texte zeigen
- durch welche Bedingungen den Patienten in der Klinik das Erzählen ermöglicht, das Narrativ erleichtert wird
- wie sehr das Narrativ dem Arzt eine sichere Diagnose erleichtert
- wie drastische und anhaltende Beschwerden sich mildern oder verschwinden können, sobald das Erzählen – und das achtsam verstehende Zuhören des Arztes – möglich wurde.
Welche Heilmittel braucht die Medizin?
1. Die Medizin braucht ein Anti-Hybris-Mittel. Sie muss lernen, dass man nicht alles durchleuchten, aufklären, nicht alles heilen kann, dass Krankheiten nicht Defekte sind, die repariert werden müssen, sondern einen Sinn und eine Bedeutung haben für den Betroffenen und seine Umgebung. 2. Die Medizin braucht Übersetzer der Körpersprache, die verstehen, was an die Nieren geht, […]
Rundbriefe
Die Rundbriefe entstanden im St. Agatha-Krankenhaus in Köln von der Psychosomatischen Abteilung aus, um zu zeigen, welche neuen Aspekte sich mit Hilfe der rezeptiven Methoden einer ‚sensiblen Medizin‘ bei alltäglichen medizinischen Problemen ergeben. Die Themen und Patientenbeispiele stammen überwiegend aus Konsilen auf den chirurgischen, plastisch-chirurgischen und internistischen Stationen, sind also ein Abbild der Liaisonarbeit. Die […]
Rundbrief 12 I Unwort Verschleiß
Das Wort “Verschleiß”: dieses Wort sollte endlich in seiner tödlichen Grausamkeit durchleuchtet, verstanden – und, als Unwort, abgeschafft werden. “Verschleiß” wird landauf landab gedankenlos in der Medizin gebraucht, von Ärzten aller Fachrichtungen, am meisten von Orthopäden, aber auch von vielen Patienten, das heißt das Wort grassiert – seit vielen Jahren, Jahrzehnten – in der gesamten […]
Rundbrief 11 I Demenz vorbeugen?
Der vermutlich wirksamste Schutz vor Demenz wird in den meisten Publikationen zum Thema nicht erwähnt: die Fähigkeit, traumatische Erfahrungen mitzuteilen und damit teilweise zu entsorgen. Viele Menschen haben Jahrzehnte lang nie über ihre Kriegserfahrungen erzählt, die Frauen nicht über erlittene Vergewaltigungen. Auch familiäre Traumen, Misshandlungen, mit Schlaf- oder Schmerzmitteln, Alkohol, Süßigkeiten – oder mit Aktivismus […]
„raus damit“, sagen die Zahnärzte, wenn die hinteren Backenzähne Beschwerden machen, am besten man entferne sie schon prophylaktisch, sie werden ohnehin nicht gebraucht (FR 23.4.13). Nun lässt der Körper überflüssige Organe selbst schrumpfen oder ganz verschwinden: die Thymusdrüse atrophiert, sobald der übrige Körper die Immunität, die Abwehr von Schädlingen, „gelernt“ hat; die Blutgefäße in den […]
Klinisch gibt es eine seltsam dialektische Beziehung zwischen Epilepsie und Schmerz – besonders Rücken- und Nackenschmerz -, die sich lohnt, besser zu verstehen. Auf der neurologischen Station in Berlin (Abteilung Prof. Janz) erlebten wir, wenn ein Epilepsie- und ein Rückenschmerzpatient auf einem Zimmer lagen, immer wieder folgende Beziehungsdynamik: In den ersten Tagen waren die beiden […]
Rundbrief 8 | Spätdyskinesien-Epidemie
Als Bahnfahrerin entdecke ich auf fast jeder Fahrt durch die Stadt ein oder zwei Fahrgäste, Frauen und Männer, mit extrapyramidalen Hyperkinesen: perioralen Zuckungen, Wälzbewegungen der Zunge, Kauen, Schlucken, zuweilen auch diskreten Hyperkinesen der Halsmuskulatur mit leichtem Torticollis, blepharospastische Phänomene mit Zukneifen und Aufreißen der Lider, Blickkrämpfe, Zucken der Finger. Die meisten Fahrgäste mit diesen Bewegungsstörungen […]
Rundbrief 7 | Sterbehilfe
Zur Umfrage: Soll der Arzt die Todespille reichen? Wenn ich in meiner über 3o-jährigen ärztlichen Tätigkeit von todkranken Patienten die Frage zu hören bekam: „Nicht wahr, Frau Doktor, wenn es so weit ist, dann geben Sie mir doch die Spritze/die Pille…“, habe ich diese Frage nie direkt, schon gar nicht mit ja oder nein beantwortet. […]
Die retrograde Amnesie nach Commotio cerebri muß von der seelisch erzeugten „dissoziativen“ Amnesie nach Unfällen abgegrenzt werden. Diese pathogenetisch so verschiedenen klinischen Phänomene sind beide als sinnvolle Antwort auf die Erschütterung im Sinne des Selbstschutzes zu verstehen. Eine anhaltende seelische Labilität, eine sog. posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt sich überwiegend nach Unfällen ohne cerebrale Schädigung, ohne […]
Die anfallsartige, meist durch Kälteexposition ausgelöste Taubheit und Leichenblässe der Finger mit dem Gefühl des Abgestorbenseins (Digiti mortui) wird auf eine Übererregbarkeit von α2-Rezeptoren zurückgeführt. Diese Auffassung leuchtet ein, erklärt aber nicht, warum oft nur einzelne Finger betroffen sind, sogar nur ein Fingerabschnitt und in vielen Fällen gerade nicht der distale. Passager exazerbierende Phasen können […]
Phantomschmerz kann neurologisch und psychosomatisch verstanden werden. Der Deafferen-zierungsschmerz nach Amputation kommt neurophysiologisch so zustande, daß neben den schmerzleitenden dünnen A-Delta- und C-Fasern die schmerzhemmmenden dicken A-Beta-Fasern durchtrennt wurden, so dass Berührungs-, Bewegungs- und Schmerzreize ungefiltert in die zum amputierten Glied gehörenden (spinalen und cerebralen) Schmerzverarbeitungsareale gelangen. Der Phantomschmerz beginnt mit Latenz von Tagen / […]
Die ersten Symptome eines Diabetes mellitus zeigen sich oft in einer Situation exacerbierender Angst. Auch andere klinische Phänomene weisen auf eine Verbindung von Diabetes und Angst hin: Patienten mit schwer einstellbaren, schwankenden Blutzuckerwerten berichten von Unruhe, Zittern und Schweißausbruch bei Unterzuckerung (entkoppelter Ruhezustand, vergleichbar somatisierten Angstsymptomen), von angenehmer Beruhigung bei hohem Blutzuckerspiegel, den sie deshalb […]
Rundbrief 2 | Psychogener Schwellfuss
Wir sehen auf der psychosomatischen Station immer wieder phasenweise, vor allem bei Schmerzpatienten, fluktuierende, meist einseitige Schwellungen an Händen, Füssen, Unterschenkeln, die medizinisch keine Erklärung finden. Die Patienten klagen zeitgleich über vermehrte, anfallsartig exazerbierende Schmerzen in der selben Extremität, einen unerträglichen Druck von innen, „zum Platzen“. – Psychodynamisch ist in diesen Behandlungsphasen die Arbeit der […]
Angeregt durch die „zufällige“ Beobachtung einer überraschenden Wundheilung nach psychosomatischer Intervention, wurden seit 199o alle Patienten mit chronischen Wunden in der Plastisch-Chirurgischen Abteilung unseres Hauses psychosomatisch untersucht und, abhängig von der Bereitschaft der Betroffenen, konsiliarisch mitbetreut. Ziel der Studie: Prüfung anhand der gesammelten Beobachtungen, was die Psychosomatik zum Verständnis schlecht heilender Wunden und zu den […]
Dissoziative Körperstörungen – durch Konversion unverarbeiteter traumatischer Erlebnisse entstanden -, nehmen oft neurologische Gestalt an (Schwindel, Schmerzen, Lähmungen, Hyperkinesen). Sie manifestieren sich nach strengen, psychodynamisch verstehbaren Gesetzmäßigkeiten. Sie folgen einem eigenen affektiven Alphabet, einer eigenen Grammatik und sind durch unverwechselbare klinische Merkmale zu erkennen: Sie äußern sich – exzessiv, entsprechend der Intensität des Affekts, der […]